Hallo Hugin,
auch auf die Gefahr hin, gebissen zu werden, nochmal: ich werde beauftragt Bodeneingriffe in einer Kirche archäologisch zu begleiten, die jemand Anderes vornehmen will. In der Regel ist dieser Andere der Gemeindekirchenrat, der eine Heizung einbauen oder erneuern will. Manchmal auch Versorgungsleitungen auf dem Gelände oder in die Sakristei legen. Das genaue Vorgehen regeln die Behörden.
Dabei stoßen wir manchmal auf Bestattungen in situ (ungestörte Begräbnislage) aber immer auf Reste gestörter Grablegen, einzelne Knochen, Sargnägel und -beschläge. Die jeweilige Gemeinde bestimmt was damit gemacht wird, normalerweise bestatten wir alle Knochen auf dem Friedhof in einer Knochengrube. Die Vertreter des Gemeindekirchenrates bestimmt das Vorgehen, sie sind für mich die Hinterbliebenen (ohne „“). Selten mal gibt es auch Streit innerhalb der Gemeinde, was von außen kaum zu klären ist.
Bestattungen in Kirchen für Normalmenschen sind m.W. übrigens schon seit Jahrhunderten kirchlich untersagt. Sie sind außerdem ganz schlecht für die Fundamente. Was macht man, wenn so ein Grab angeschnitten wird? Zuerst dokumentieren, und dann? Die Heizung umplanen, ein Teil oder ein ganzes Grab herausnehmen? Es gibt da, in meiner Erfahrung, keine Patentlösung, man muss miteinander reden.
Dann gibt es manchmal ein „öffentliches Interesse“, weil wichtige lokalhistorisch bedeutsame Personen, Unterdrückte der zahlreichen absoluten Herrschaftssysteme der letzten Jahrhunderte, Kriegs- oder Seuchenopfer, oder, oder, auf einem ehemaligen Friedhof ganz sicher vermutet werden. Das sind für mich die ‚Hinterbliebenen‘, nicht selten als Journalist oder Publizist eben auch beruflich involviert. Auch deren Interessen wollen gehört und wahrgenommen werden.
Und dann gibt es noch Friedhöfe aus historischer Zeit ohne heute noch existierende Gemeinde, später industriell überbaut, heute Objekt der Begierde für die Immobilienwirtschaft. Auch diese Menschen sollten ihre Geschichte erzählen können und nicht nur weggebaggert werden, weil sich heute niemand für sie interessiert. Was der wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks diametral entgegensteht.
Dazu kommen die ungeplant angeschnittenen Bestattungen oder Friedhöfe, von lange aufgegebenen oder vorher unbekannten Kirchen, von Begräbnisritualen der Bevölkerung der letzten Jahrtausende. Einfamilienhäuser, Regenwasserleitungen, der Ausbau des Feuerwehrhauses. Projekte, bei denen kaum Geld oder Zeit für das Notwendigste da ist, müssen jetzt an Skelette denken. Auch nicht einfach.
Der Umgang mit den Ahnen, den eigenen wie den fremden, ist glaube ich vom eigenen Verstehen abhängig. Liturgie und Bedeutung der Religionen verändern sich aber ständig, und mit ihnen auch die Regeln für den Umgang mit den Toten. Nach welchen Regeln kann ich praktisch handeln, wenn niemand sonst da ist, der diese Verantwortung übernimmt? Egal ob das Skelett im Graben von einem Soldaten aus dem 2. WK stammt, von einem Friedhof aus dem 14. Jahrhundert oder von einem Menschen aus der vorrömischen Eisenzeit, ich muss es erst untersuchen, bevor ich es identifizieren kann. Und ich weiss, dass schon diese Störung der Totenruhe in einigen religiösen Systemen einen unverzeihlichen Fehler darstellt.
In allen diesen Fällen ist der Archäologe derjenige, der versucht ein bestimmtes Mindestmaß an Pietät und Würde im Umgang mit Toten aufrecht zu erhalten. Der versuchen muss in einem engen Zeitplan zusätzlichen Platz für die notwendigen Extras zu schaffen. Aber das grundsätzliche Vorgehen, der Bodeneingriff und die Arbeitsbedingungen der Archäologen, werden von anderen Seiten kontrolliert. Und eine ethische Übereinkunft der gehobenen Schreibtischebene hilft mir in Verhandlungen mit meinem Auftraggeber oder dem Baggerfahrer vor Ort nicht weiter.
Um auf deine Fragen zurückzukommen:
1.) ja es gibt gesetzliche Vorschriften, die aber meiner Meinung nach häufig nicht ausreichen, weil sie im Wesentlichen die Störung von intakten Gräbern regeln wollen. Knochen aus bereits gestörten Gräbern sind kaum geschützt.
2.) je älter die Gräber sind, desto geringer ist die Chance, dass religiöse Pietät (wessen Pietät denn auch?) sie schützt, je stärker eine Grablege bereits gestört ist, desto eher wird sie wohl weiter zerstört werden. Die Ansichten unter den Archäologen sind wohl genauso gemischt wie bei anderen Menschen auch, es muss für jeden Einzelfall ein Kompromiss zwischen Bedeutung und Praxistauglichkeit geben.
3.) je älter und kompletter eine Grablege ist, desto eher dürfte sie magaziniert werden. Soweit ich das kenne, werden alle anderen menschlichen Knochen wieder bestattet, entweder am Ort der Freilegung oder auf einem anderen Friedhof
Warum werden die Archäologen kritisiert, die unter Druck irgendeinen Kompromiss produzieren müssen? Das ist Tradition. Erstens sind wir sowieso Schuld an Allem, und zweitens, der Überbringer schlechter Nachrichten und so weiter.
Ich weiss nicht ob du, als der Rabe, der du bist, in einer Kirche bestattet werden wolltest. Aber wenn, und ich müsste dich Jahrhunderte später ausgraben, sei versichert, dass ich dich mit allem Respekt behandeln würde. Es finden sich übrigens öfters mal magische Utensilien in oder an Kirchen, ein gewisser Freiraum besteht also immer.
Ich hoffe, deinen Zorn etwas beruhigt zu haben
Viel Spaß
Uwe
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